Diana Siebert für Mach Et, März 2005

Die andere Seite der Visafrage

Die zentrale Seite der Argumentation der Opposition (aber auch von SPD-Größen wie Schartau) ist die, dass der grüne Außenminister in Einverständnis mit unkritischen Grünen die Kriminalität und die Prostitution gefördert habe, und dass die Arbeitslosigkeit dadurch gestiegen sei. Die Opposition und Teile der Medien behaupten, dass eine hohe Anzahl von Visavergaben mit einem hohen Anteil an Kriminalität einhergeht. Es wird aber nie gefragt, wie denn eine korrekte Visumspolitik aussehen sollte - zum Beispiel, wie viele Visaerteilungen denn richtig wären. Das Ganze wirkt daher wie eine Kampagne, bei der man nicht die Balance zwischen Freizügigkeit und Sicherheitspolitik erörtern, sondern eben Rot-Grün abwählen möchte. Dennoch wäre es von unserer Seite her völlig unverantwortlich, die Argumente der Opposition als reine Kampagne abzutun, wie es in den ersten Wochen manche unserer ParteifreundInnen noch getan haben.

Eine Frage der Perspektive?

In der Argumentation gegen die „grüne Visumspolitik“ werden die Ukrainer selbst nicht oder nur aus der „altdeutschen“ und „alteuropäischen“ Perspektive betrachtet. Die Motive, sich wegen eines Visums für den Schengenraum in eine lange Schlange zu stellen, bleiben daher teilweise unverständlich. Daher möchte ich einmal die „andere Seite der Visafrage“ beleuchten. So kann möglicherweise auch die immer noch merkwürdig unterbelichtete Frage beantwortet werden, warum ausgerechnet an der Kiewer Botschaft so viele Visa vergeben wurden.

Die Ukraine

Eigenartigerweise werden die über eine Millionen Einwohner in Deutschland, die aus den Ländern der Sowjetunion kamen, zu dieser Frage nicht befragt, obwohl es ja nahe liegt. Zum Glück gibt es aber einen beliebten Russen: Wladimir Kaminer hat gegenüber Spiegel –Online dargelegt, wie schwierig es für ihn ist, seine Mutter nach Deutschland zu Besuch einzuladen. Aus zumindest 4 Gründen war die Kiewer Visumsvergabestelle unter den Botschaften, in denen es während der Gültigkeit von Reisebüro- und Schutzbriefverfahren zu einer erheblichen Erhöhung der vergebenen Visa gekommen ist:
1. Es gibt viele Menschen aus der Ukraine und anderen ehemaligen sowjetischen Republiken, bis heute über eine Millionen in Deutschland. Daher gibt es viele familiäre und freundschaftliche Kontakte, uns also Übernachtungs-, Besuchs- und Arbeitsmöglichkeiten.
2. Die Ukraine war (und ist) ein Land, in dem der Durchschnittslohn noch weit unterhalb von dem in den neuen EU-Ländern (z.B. Polen) und auch unter dem in Russland (etwa die Hälfte) liegt. Der Drang nach Saisonarbeit, aber auch die Mafiastrukturen sind in der Ukraine besonders stark gewesen.
3. Die Menschen, die vorübergehend hier arbeiten wollen, gehen gerne zurück: Präziser: der traditionelle Typ der „Migration“ von einem Heimatland in ein fremdes Land ist bei Ukrainern schon veraltet. Man arbeitet mal woanders, lebt aber in der Ukraine. Dieses weite Pendeln hat schon eine lange Tradition seit Zarens Zeiten. Aber auch die Sicherheit, dass einem zu Hause bei der Rückkehr nichts passiert, spielt eine Rolle. Mit anderen Worten: solch eine weites Pendeln zu Arbeitszwecken auf eigene Faust kommt für, sagen wir, PakistanerInnen noch nicht so in Frage.
4. Die Fahrtkosten nach Deutschland und zurück sind nicht so groß, weil die Ukraine so nah an Deutschland liegt.

Diese Gründe müssen nun gerade hinsichtlich der Ukraine mit den anderen abgewogen werden, die durch die praktische Umsetzung der Erlasse des Auswärtigen Amts von 1999-2000 begründet sind: zum Beispiel, dass die Beauftragten des Auswärtigen Amts, also der ADAC oder die Reiseschutz AG gerade dorthin Kontakt hatten, dass die Ukraine besonders groß , das Botschaftspersonal jedoch gering ist usw.

Aber wie dem auch sei, es gibt sicherlich auch heute einen Bedarf nach jährlich 300.000 Visa (das war die Spitzenzahl von 2001) aus der Ukraine in den Schengenraum. Nach der etwas pathetisch so bezeichneten „Revolution in Orange“ zur Durchführung fairer Wahlen in der Ukraine und der mit dem Sieg Juschtschenkos verbundenen Orientierung nach Mittel- und West-Europa wird diese Zahl sicherlich nicht abnehmen.

Regeln für die Reisefreiheit

Gäbe es Visumsverkehr zwischen Deutschland und Spanien, müssten die BundesbürgerInnen sicherlich mehr als 300.000 Visa je Jahr beantragen – und niemand käme auf den Gedanken, dies einzuschränken, weil auch Schwerkriminelle, Zuhälter und Prostituierte darunter wären. Aber die Ukraine ist nicht in der EU und wird auch in den nächsten 15 Jahren dort nicht sein. Mit der Ukraine wird ein visumsfreier Verkehr auf absehbare Zeit nicht möglich sein, während es ihn mit dem damaligen Nicht-EU-Land Polen seit 1991 (!) gab. Es muss also – „schengenweit“ ! – eine gerechte Visumspolitik geben, die sich an die geltenden Regeln hält. Zu diesen geltenden Regeln gehört die KSZE-Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, als in der Kalten-Kriegs-Zeit sich auch BRD und DDR und die Sowjetunion zu der Reisefreiheit bekannten. „Im Zweifel für die Reisefreiheit“ – das bleibt und muss bleiben. Zu den geltenden Regeln gehört aber auch das Abkommen von Schengen. Dies sieht Visumspflicht vor. Daher brauchen wir ein Visumsregime und daher auch eine Visumspolitik! Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie Verbrechensbekämpfung erfolgsversprechend sein kann: indem man an den Botschaften der Schengenländer „gut geschultes Personal“ en gros bereitstellt? Oder indem die Bekämpfung der Verbrechen besser in den Schengenländern selbst stattfinden soll, damit unbescholtene Besuchsreisende nicht darunter leiden? Schließlich werden es die organisiert Kriminellen sowieso immer schaffen, über die EU-Grenze zu gelangen.

Arbeitsmigration

Auch wenn Schwarzarbeit zu über 90% von in Deutschland fest Lebenden begangen wird – die Nachricht, dass ukrainische und moldawische SaisonarbeiterInnen teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen übernachten und mit 3 €uro je Stunde auskommen (müssen), sollte uns auch in der Ära von 1-€uro-Jobs beunruhigen. Bei nicht vorhandenem Visum wären sie noch erpressbarer und würden die Zahl der völlig illegal in Deutschland Lebenden noch erhöhen – das kann nicht gewollt sein, und das hat Bärbel Höhn schon am Beispiel der Zwangsprostituierten klargestellt. Zur Verbesserung sollte meines Erachtens ein Maßnahmenbündel aus
a) sowohl grundsätzlichem als auch obendrauf noch branchenspezifischen Mindestlöhnen in Deutschland,
b) harter Bekämpfung von Schwarzarbeit,
c) kontingentierter Saisonarbeit (Vorbild wäre das Abkommen Anfang der 90er zwischen Deutschland und Polen unter Blüm und Kuron) sowie
d) Schaffung einer schengenweiten Einladerdatei zur Visavergabekontrolle durchgeführt werden, welche die Saisonarbeitsmigration legalisieren und gleichzeitig kanalisieren. Das hilft nicht nur den in Deutschland fest Lebenden, sondern auch den Ukrainerinnen und Ukrainern.

Ob allerdings im 21. Jahrhundert mit Visumspolitik überhaupt noch die Migration gesteuert werden kann, wird auf einem anderen Blatt zu schreiben sein. Die Diskussion um eine gerechte und liberale Visumspolitik hat erst begonnen.