Zusammenfassung der Diskussion über „EU-Erweiterung – was habe ich davon?“ auf dem BürgerInnenforum „Europa ohne Ende“ der Heinrich-Böll-Stiftung NRW am 18.11.06:

Antwortgeber: Richard Wagner
Moderation und Protokoll am 25.11.: Diana Siebert

Zusammenfassung:
Die meisten Mitdiskutierenden stellten die an der EU und damit auch ihrer Erweiterung die Freizügigkeit mit Minderheitenschutz, den kulturellen Austausch, auch die Niederlassungsfreiheit und sogar die Möglichkeit Jobs in Polen zu finden als für sich selbst positiv heraus. Ob es einen Rückfall in nationale Egoismen oder andererseits eine kulturelle europaweite Gleichmacherei geben wird – das wird in den Metropolen der EU entschieden werden. Die etwas undurchsichtige EU, eine Frustabladestelle ersten Ranges, solle aber sich vor Überheblichkeit und Größenwahn hüten, und sich nicht immer an den USA, an Russland oder dem Nahen Osten abarbeiten.

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Ausführliches Protokoll:
Die meisten Mitdiskutierenden stellten die positiven Seiten der EU-Erweiterung für sich selbst heraus (Punkt 1 bis 4):

1. Freizügigkeit und kultureller Austausch.
Die Möglichkeit, ohne Visum in die anderen EU-Länder reisen zukönnen, wurde positiv bewertet. Bedauert wurde, dass das Englische als Sprache immer dominanter wird, und dass sich Gesellschaft und Kultur am Westen Europas ausrichten. „Niemand will nach Polen, niemand will polnisch lernen“ – wurde festgestellt und von allen geteilt, aber die im Raum anwesenden 20 Personen wollten das nicht für sich selbst gelten lassen. Die EU schützt die Rechte verschiedenster Minderheiten. Sie garantiert Pressefreiheit – siehe aber Berlusconi. Keine Tautologie: Die EU schafft mehr europäische Identität.
Führt die EU also zu kultureller Nivellierung? Jedenfalls ist das Fremde nicht mehr das Böse („keine Angst vor den Kaczynskis“), sondern das Reizvolle – aber gibt es das Fremde eigentlich noch? Brauchen wir einen ausdrücklichen Kulturföderalismus? Die national begrenzten Diskussionen, zum Beispiel in Polen, nehmen wir in Deutschland nun wenigstens wahr. Soll mit mehr europäischen, europaweiten Medien noch nachgeholfen werden? Jedenfalls sollten wir uns bemühen, den Blick von Innen nach Außen, und, besonders im Westen, „von oben nach unten“ gegenüber z.B. Rumänien zu überwinden.
In Köln wurde beim Weltjugendtag 2005 und der Fußballweltmeisterschaft 2006 deutlich, dass die beschriebenen Vorteile nur zum Teil EU-bedingt sind – aus der ganzen Welt kamen Menschen zu diesen völkerverständigenden Ereignissen. Werden Diskurse und sogar echte Grenzen statt entlang der Nationen nun entlang von Religionen gebildet? Die entscheidende Rolle werden die Metropolen spielen, wozu Richard Wagner Budapest und Prag, nicht aber Warschau und Bukarest rechnet.

2. Niederlassungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Wirtschaft.
Wer noch den griechischen Zoll auch in den 80er Jahren noch mitbekommen hat, sieht zum Binnenmarkt keine Alternative. Der größte Export und Import der EU-Länder findet ja mit anderen EU-Staaten statt. Die EU ist „eine Teststrecke“ für gemeinsames Wirtschaften in Zeiten der Globalisierung. Die Wirtschaft hat verbindliche, machbare Standards.

3. Jobs.
Strittig war, ob die EU (und auch die EU-Erweiterung) „nur für Reiche gut“ ist. Vielleicht bekommen wir einen Job in Polen? Es gibt 600 bayrische Firmen in Rumänien.

4. Demokratie und Frieden.
Noch haben EU-Länder keinen Krieg gegeneinander geführt. Auch mit Kaltem Krieg ist es in der EU vorbei. Die EU-Erweiterung sorgt somit für friedliche Verständigung. Oder haben wir Nordirland und Baskenland vergessen? Die europäischen Probleme wie auch negative und positive Seiten der Globalisierung gibt es „auch ohne die EU. Die EU ist aber das Beste, was uns passieren konnte.“ (Wagner) Nettozahler sein, hieße somit in den Frieden zu investieren. Allerdings stritten sich die Geister, ob diese EU auch „für die Ukraine konzipiert“ sei, oder für die Türkei.

5. Die behauptete Alternativlosigkeit schafft noch keine positive Beitrittsstimmung. Aber auch die Aussage „Die EU-Erweiterung bringt mir nix“ ist sehr einfach. Die EU und ihr kompliziertes Zusammenspiel von Kräften ist vorbildlos. Die USA ist anders, „ein Ungar bleibt in der EU trotzdem ein Ungar“. - im Gegensatz zur USA. Oder wie fühlt einer in Kentucky und was für Fernsehen guckt er?

6. EU als Frustabladestelle
Ein so noch nie diskutierter Aspekt: nur weil es die ja etwas undurchsichtige EU gibt, ist es auch möglich an ihr seinen Frust abzuladen. Anstatt diese Funktion der EU zurückzuweisen oder zu nutzen, sollten wir sie mal zur Kenntnis nehmen. Vielleicht lässt sich was draus machen. Motto: Wer sonst, wenn nicht die EU – ist Ansprechpartner für das Chaos, in dem wir leben?
Bis zur Blockkonfrontation des Kalten Krieges war das multilaterale Verhältnis der europäischen Staaten von noch mehr „Chaos“ geprägt (Beispiel: Bismarck’sches Bündnissystem, „Konzert der Mächte“) oder als anderes Extrem in von Supermächten verordneter, gefrorener Stabilität erstarrt (Beispiel: Blockssystem des Kalten Krieges). Die EU 25+ nimmt in dieser Frage eine Mittelposition ein – das ist ein großer Fortschritt.

7. Wo beginnt Europa ? Warnung vor Größenwahn
Auch folgender Punkt wird wenig diskutiert: Wir sollten die EU-Beitrittsfrage nicht größenwahnsinnig angehen und also uns also nicht wie viele Politiker von Machtstrategien leiten lassen, uns nicht an USA, Russland oder dem Nahen Osten abarbeiten. Vielmehr sollten wir deutlich die Einhaltung der EU-Regeln von neuen wie alten Mitgliedsstaaten einfordern. „Weg vom Hochstaplerdiskurs, hin zur klugen Verwaltung“ (Wagner).

Zu guter Letzt: Die Frage des Türkeibeitritts wurde erst kurz vor Schluss aufgeworfen. Richard Wagner war deutlich dagegen, weil die Türkei eine instabile, nicht säkulare Gesellschaft mit vielen Kindern sei, die das Kurdenproblem nicht gelöst habe. Ob die Türkei, Zypern oder Israel zu Europa und zur EU gehören , konnte nicht mehr diskutiert werden.