Diana Siebert

Spät-Rezension zum Weißrussland-Teil des Buchs von
Peter Scholl-Latour
Russland im Zangengriff

Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam
Propyläen Verlag, Berlin 2006, ISBN 3549072651, Gebunden, 425 Seiten, 24,90 EUR
Taschenbuch November 2007

Natürlich kaufe ich solche Bücher immer später, wenn sie als preiswertes Taschenbuch rausgekommen sind. Und ebenfalls natürlich - Scholl-Latour habe ich immer gemieden – was soll schon von einem Vielschreiber zu erwarten sein? 1992 hatte er schon einen Titel: „Unter Kreuz und Knute – Russische Schicksalsstunden“- muss ich mir das also antun? Dazu die negativen bis leicht negativen Rezensionen in FAZ und SZ... Aber wenn es ein Buch bis zum Buchladen am Düsseldorfer Flughafen bringt, dann muss ich es doch lesen – denn davon wird das Weißrusslandbild unserer fliegenden Bevölkerung doch mehr geprägt als durch NGO - oder grüne Aktivitäten.
Und das gilt um so mehr, als es über die Belarus ja immer noch wenig gibt. Und in diesem Buch schreibt doch einer tatsächlich drei mal so viel über die Belarus als über die Ukraine! Das hat es noch in keinem Sammelband gegeben. 79 Seiten über Belarus.

Das Wichtigste zuerst: Scholl-Latour erwähnt (oder weiß) nicht, dass es in der Belarus etliche Verschwundene gibt. Von dieser Tatsache führt ein direkter (Trug?)-Schluss zu seinem nicht negativen Lukaschenka-Bild. Zwar glaube ich ihm, dass er schon schlimmere Diktatoren gesehen hat (S.111). Aber er verharmlost ihn.

Viele kleine Fehler: Scholl-Latour leistet sich die typischen Vielschreiber-Fehler und Ungenauigkeiten. Muss es denn sein, die Belowez (Bielowezh, Bialowiez) ,auf französisch Belovege zu benennen, so dass kaum einer es wieder erkennt? Darf man Dzierzynski „Dzerschinski“ nennen? (S.50). Und Stanislau Schuschkewitsch war auch nie „An der Spitze [...] der Weißrussischen Volksfront“ (S.74). Die FSB wurde nicht unter Putin, sondern unter Jelzin 1993 Nachfolgerin vom KGB (S.50). Lenins „Religion ist Opium für das Volk“ ist eigentlich Marx' „Religion ist das Opium DES Volkes“ (S.50). Lukaschenka hat bei den freien Wahlen 1994 80% erst im zweiten Wahlgang bekommen - (S.75) . Im ersten Wahlgang scheiterte er mit 45% an der Hürde der absoluten Mehrheit. Und so weiter.

Und dennoch ist der Text nicht uninteressant. Denn er hat eine gute materielle Grundlage: Scholl-Latour ist sowohl von der Lukaschenka-Regierung als auch von irgendwelchen anderen Arbeit- oder GeldgeberInnen vollkommen unabhängig. Seine einzige Abhängigkeit ist sein eigener Geldvorrat, also z.B. die Verkaufszahlen seines nicht ganz so guten Buchs. Keine Berichtspflicht an den Geldgeber. Das führt bei Scholl-Latour (und bei anderen, die in einer ähnlich unabhängigen Situation sind - ich denke da an Rupert Neudeck während des Kosovo-Jugoslawien-Kriegs) zu verstiegenen, eigenbrötlerischen Positionen oder doch Aussagen, die man nicht teilen muss, bei denen man aber wenigstens nicht schon vorher weiß, was gleich kommt.

Er interessiert sich auch für das, was für die staatliche Politik oft zu uninteressant zu sein scheint. Er spricht heute mit Irina Chalip (107) und Jurij Chaschtschewatski (S. 79) , dann wieder mit Präsidentenberater Valeri „Tsepkalo“ Cepkalo (84). Er interessiert sich für das Dorfleben und die Minsker Nächte, schreibt über Tschernobyl und Afghanistan-Rückkehrer, über die Geschichte der Christianisierung, der Juden in Weißrussland, über Chatyn, den Partisanenkrieg in Baranowitschy, fährt nach Brest, greift auf die unvermeidlichen und reichhaltigen eigenen Erfahrungen in allen Kontinenten (51, 71) zurück. Das ist manchmal erfrischend, manchmal abwegig. Man erfährt, dass der Spruch „Die Auflösung der Sowjetunion war die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ vor Putin schon am 3.7.1999 von Lukaschenka zu Protokoll gegeben wurde (S.75).

Am meisten nervt eine fast schon reflexartigen Ablehnung von allem, was westlich von Belarus liegt. Dass es in Brest ein Mickiewicz-Denkmal weiterhin gibt, deutet Scholl-Latour nicht als Souveränität Weißrusslands, sondern es „verkörpert wie ein steinerner Gast den Anspruch Warschaus auf seine verlorenen Ostgebiete“ (S. 50) - hä? Wann hat ernsthaft mal die polnische Politik Ansprüche auf seine verlorenen Ostgebiete gestellt? Auf S.58 schrumpft dies dann zu einem angeblichen „Führungsanspruch, den Warschau neuerdings gegenüber Litauen, Weißrussland und der West-Ukraine zu entwickeln scheint“ - ganz Weißrussland, aber nur den Westen der Ukraine? (Da hätte aber eine Karte hergemusst!) Gleichwohl wird nicht deutlich, ob nun Polen selbst Schuld an dem angeblichen West-Ukraine-Appetit ist oder die „fatale Verblendung der Brüsseler Eurokraten und ihre in Zeiten des Kalten Krieges erworbene Hörigkeit gegenüber Forderungen Washingtons“. Da ist es nur logisch, dass sich laut Scholl-Latour der Vorsprung von Polen und Litauen gegenüber der Belarus „durch die massive Finanzhilfe aus Brüssel und Washington erklären lässt“ - „so weiß jedermann“ (80/81). Wahr ist das aber trotzdem nicht, sondern Polen hat bei gleichem Start sagen wir im Jahre 1985 schon bis 1993 einen viel höheren Lebensstandard entwickelt. Auch ist es ein Mythos, dass in den anderen GUS-Ländern die Renten nicht pünktlich ausgezahlt werden - und zum Leben zu gering sind sie immer noch - in Kasachstan, in Lettland und auch in Lukaschenkos Land. Wenn man das alles so liest, so müsste Lukaschenka eigentlich sehr ungehalten gegenüber der stets mit Polen assoziierten katholischen Kirche sein – stattdessen berichtet Scholl-Latour, dass Lukaschenka die Kirche an der Ploschtscha Nezaleshnasci „an den römisch-Katholischen Bischof von Minsk zurückgab“ (84). Allerdings stimmt auch das nicht: schon 1990 wurde das Gebäude rückübertragen.

Leider ist es viel einfacher, wie Scholl-Latour mit Promi-Bonus irgendetwas zu behaupten, als sich die Mühe zu machen, Irrtümer aufzudecken. Aber es muss sein: bekanntlich wird Scholl-Latour viel gelesen.

Durch seine durchgängige Anti-USA- und Anti-EU-Schreibe fällt seine durchaus ernstzunehmende Kritik an den eingebetteten NGOs leider gar nicht mehr richtig auf. Das Gongo-Problem ist ja nicht neu, aber wir müssen es noch einmal systematisch angehen, wie nach der Lektüre auffällt: Viele Nicht-Regierungs-Organisationen sind stark von ihren Geldquellen abhängig. Scholl-Latour geht noch weiter und stellt die NGOs dar als „professionellen Wanderzirkus von jungen Agitatoren [...] die durch internationale Stiftungen gesteuert und finanziert werden“. „Foundations“ und „Think tanks“ machen gemeinsam mit dem „Europarat“ (meint er wirklich Europarat?) ein „Kesseltreiben“ (110). Er hat Verständnis für den Rausschmiss der Soros-Stiftung (109). Scholl-Latour berührt hier eine Frage, die aus der Perspektive der Lukaschenko-Gegner nicht unwichtig ist: ist es möglich, mit der materiellen und moralischen Unterstützung der politischen Opposition, mit dem Versprechen von den Vorteilen der European Neighbourhood Policy (Europäische Nachbarschaftspolitik) Weißrussland zu verbessern oder wenigstens die noch lebenden Vermissten und die politischen Gefangenen in Freiheit zu bringen und Lukaschenko abzulösen? Wie viel Nichtauthentizität verträgt der Widerstand gegen das Regime? Oder rückblickend gefragt: Warum ist in Serbien und in der Ukraine die Öffnung der Gesellschaft und eine teilweise Demokratisierung des Staats gelungen? Die Diskussion darüber wurde von Björn Kunter und Ingo Petz in der Zeitschrift Osteuropa letztes Jahr schon begonnen und muss unbedingt weiter gehen.

Diana Siebert, 22.03.2008